HELMUT LODER'S Adventkalender
Die Nacht des Heils |
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25. Dezember
Von der Nacht der Menschen und dem Licht Gottes
Gedanken von Bischof Kurt Koch

Die folgenden Zeilen einer Predigt des Schweizer Bischofs Kurt Koch sind mir durch einen Zufall untergekommen. Ich finde, sie fassen am besten zusammen, was ich mit dem Leitmotiv der NACHT in diesen vergangenen Tagen aufzeigen wollte. Eine wunderbare Meditation des Weihnachtsfestes:

„Ein alter und schöner Brauch will es, dass wir uns zum Weihnachtsgottesdienst mitten in der Nacht treffen. An diesem Brauch lässt sich ablesen, dass wir Christen und Christinnen offensichtlich die Nacht gern haben. Die Nacht ist uns sogar heilig und geweiht. Sie ist Weih-Nacht. Mit diesem Ehrentitel bezeichnen wir jene Nacht, in der Jesus Christus, der Sohn des lebendigen Gottes, auf unserer Erde erschienen, geboren und Mensch geworden ist. In dieser Nacht feiern wir den Eingang Gottes in die Weltnacht der Menschen. Heilige Nacht-Weihnacht! Die Feier der Weih-Nacht mutet uns deshalb nichts weniger zu als dies, uns der Nacht zu stellen: der Nacht im eigenen Leben, der Nacht in der gegenwärtigen Welt und der Nacht auch in der heutigen Kirche. Christen und Christinnen sind zwar- und hoffentlich - nicht Menschen, die die Nacht herbeireden. Aber wir sind auch nicht - und hoffentlich - Menschen, die der Nacht ausweichen und sie verdrängen. Wir stellen uns vielmehr der Nacht und setzen uns ihr aus. Denn wir wissen sehr genau, dass, wenn wir die Nacht aus unserem Leben verdrängen, die Weih-Nacht bloß noch eine Worthülse wäre. Als Zeichen für diese Nacht im Leben der Menschen und in der Geschichte der Welt treffen wir uns zur Feier der Heiligen Weihnacht in der Nacht.
Weihnachten feiern braucht in der Tat den Mut, sich der Nacht zu stellen. Dies wäre auf der anderen Seite aber ein furchtbar trostloses und letztlich tristes Unterfangen, wenn damit nicht eine frohe Verheißung verbunden wäre. Die weihnachtliche Verheißung besagt, dass in den Nächten unseres Lebens ein Licht aufgegangen ist, das die Finsternis erhellt. Dieses Licht ist aufgeleuchtet in der Krippe in Bethlehem in jenem Kind, in dem Gott selbst Mensch geworden ist. Mit diesem Kind ist uns sogar das Licht schlechthin aufgestrahlt. Seither dürfen wir als wahrhaft erleuchtete und - im besten Sinne des Wortes -aufgeklärte Menschen leben. Erst diese Verheißung macht Weihnachten wirklich zur Welt-Nacht. Denn wir dürfen glauben, dass der Gottessohn in der Lebensnacht der Menschen zur Welt gekommen ist und uns aufgesucht und heimgesucht hat, um die Nacht mit uns zu teilen und um in unsere Nacht hinein sein Licht zu bringen. Das ist das schöne Geheimnis der Heiligen Weih-Nacht.

Licht, das den menschlichen Lebensraum erfüllt
Um in die Tiefe dieses Geheimnisses der Heiligen Weih-Nacht einzuführen und in diesem Geheimnis heimisch zu werden, eignet sich eine Geschichte, die die Menschen auf den Philippinen zu erzählen pflegen: Ein König, der zwei Söhne hatte, beschloss im Laufe der Zeit, einen der beiden Söhne zu seinem Nachfolger zu bestellen. Um besser entscheiden zu können, welchen von beiden er mit der Nachfolge betrauen kann, gab er jedem fünf Silberstücke in die Hand, verbunden mit dem Auftrag, sie sollten mit diesem Geld bis zum Abend die leere Schlosshalle füllen. Eigens vermerkte er, dass es in ihrer Entscheidung liege, wie sie diesen Auftrag erfüllen wollen.
Der ältere Sohn machte sich sofort auf den Weg. Dabei kam er an einem Feld vorbei, auf dem gerade Zuckerrohr geerntet und ausgepresst wurde. Als er das leere Zuckerrohr zuhauf am Feldrand liegen sah, dachte er sich, damit könne er die Schlosshalle gut auffüllen. Schnell wurde er mit den Arbeitern handelseinig; und diese schafften für die fünf Silberstücke das ausgepresste Zuckerrohr in die
Schlosshalle. Als sie voll war, ging der ältere Sohn in großer Freude zu seinem Vater und berichtete, er habe die ihm gestellte Aufgabe erfüllt: „Mach mich nun zu deinem Nachfolger!" Doch der Vater antwortete: „Noch ist nicht Abend. Ich werde warten." Als die Dämmerung über das Land hereingebrochen war, kam auch der jüngere Sohn zurück. Er sah, dass die Schlosshalle mit Zuckerrohr aufgefüllt war, und sagte: „Schafft das leere Stroh weg!" Nachdem dies geschehen war, stellte er mitten in die Schlosshalle eine Kerze und zündete sie an. Das Licht der Kerze erfüllte den ganzen Raum und drang bis in den letzten Winkel. Als der Vater sah, dass das Licht der Kerze die ganze Schlosshalle erfüllt hatte, sagte er zu seinem jüngeren Sohn: „Du sollst mein Nachfolger sein. Dein Bruder hat alle fünf Silberstücke ausgegeben, um die Halle mit nutzlosem Zeug zu füllen. Du aber hast nicht einmal ein Silberstück gebraucht und dabei die Halle mit Licht gefüllt. Du hast sie mit dem erfüllt, was die Menschen wirklich brauchen."

Der Unterschied zwischen den beiden Söhnen könnte gar nicht größer sein. Er ist sogar so groß, dass er uns an den radikalen Unterschied zwischen Gott und uns Menschen erinnert: Handeln wir Menschen nicht oft genau so wie der ältere Sohn und geben uns alle erdenkliche Mühe, die Schlosshalle unseres Lebens mit allem Möglichen auszufüllen? Ist unsere eigene Schlosshalle oft nicht voll von Problemen und Nöten, von Terminen und Agenden, von Plänen und Programmen? Ist unser Herz nicht mit allen möglichen Dingen besetzt, und haben wir nicht oft genug auch unseren Kopf voll? Kommen wir uns selbst nicht manchmal gleichsam wie „besetztes Gebiet" vor? Und wenn wir die besetzte Dunkelkammer unseres Herzens ans Tageslicht bringen, müssen wir dann nicht entdecken, dass darin auch viel Stroh ist, das uns zwar ausfüllt, aber gerade deshalb noch lange nicht erfüllt? Gleichen wir Menschen nicht so oft dem älteren Sohn, der die Schlosshalle mit ausgepresstem Zuckerrohr auffüllt? Auch wir sind dann zwar aufgefüllt, aber nicht erfüllt.

Die Heilige Weihnacht lädt uns aber ein, auf Christus zu schauen. In ihm dürfen wir den jüngeren Sohn in der philippinischen Geschichte wieder entdecken. Denn er füllt unser Herz mit nichts anderem als mit seinem Licht, das die Schlosshalle unseres Lebens bis in den letzten Winkel zu erfüllen vermag. Er erfüllt es mit dem, was wir Menschen wirklich brauchen. Denn er ist gekommen, uns zu besuchen als das „aufstrahlende Licht aus der Höhe, um allen zu leuchten, die in Finsternis sitzen und im Schatten des Todes" (Lk 1,78-79).

Jesus Christus als Gnaden-Licht in Person
In der Tat gleicht unser Leben so oft einer leeren und dunklen Schlosshalle, die darauf wartet, gefüllt zu werden. Die Heilige Weihnacht will sie erfüllen mit jenem Licht, das im Kind in der Krippe von Gott her in unsere Welt gekommen ist. Von diesem Licht gilt erst recht, was der Vater in der Geschichte zum jüngeren Sohn sagt: „Du hast nicht einmal ein Silberstück gebraucht und sie dabei mit Licht erfüllt. Du hast sie mit dem erfüllt, was die Menschen brauchen." In der Tat kostet das Licht, das Christus selbst ist und das wir dringend brauchen, nichts: Es ist gratis, es ist reine Gnade.

Jesus Christus ist in Person die gnädige Zuwendung Gottes zu uns Menschen. Die Heilige Weihnacht verkündet, dass in ihm die Gnade Gottes erschienen ist, „um alle Menschen zu retten" (Titus 2,11). Ja, Jesus Christus ist selbst die Gnade Gottes. Wer es an Weihnachten mit dem Kind in der Krippe zu tun hat, hat es mit Gott selbst zu tun. Denn in ihm ist Gott gegenwärtig, und in ihm ist erfahrbar, dass letztlich alles Gnade ist. Die Gegenwart Gottes wird uns an Weihnachten als sein Licht geschenkt. Die Feier der Weihnacht setzt deshalb unsere Bereitschaft voraus, dass wir Menschen, die wir wie der ältere Sohn in der philippinischen Geschichte die Schlosshalle unseres Lebens immer wieder mit allem Möglichen aufzufüllen versuchen, es dem jüngeren Sohn erlauben, dieses alles Mögliche auch als „leeres Stroh" zu befinden und stattdessen seine Kerze in die Schlosshalle zu stellen. Denn Christus will in dieser Heiligen Weihnacht auch unseren Lebensraum mit seinem Licht der Gnade erfüllen. Er ist selbst das Licht der Welt und kommt vom Licht der Gnade Gottes her. Er ist „Licht vom Licht" und deshalb „wahrer Gott vom wahren Gott", wie wir es im Großen Glaubensbekenntnis ausdrücken. Dieses Licht dürfen wir auch empfangen vom Glanz des Herrn, der den Engel in der Weihnachtsgeschichte umstrahlt (Lk 2,9). Öffnen wir Christus in dieser Nacht die dunkle Schlosshalle unseres Lebens, damit er sie mit seinem Licht bis in die letzten Winkel erfüllen kann. Dann geht uns vollends auf, dass wir Christen und Christinnen mit bestem Recht die Nacht gern haben dürfen. Sie ist uns Heilige Nacht, geweihte Nacht, Weih-Nacht. Denn sie ist jene Nacht, in die hinein uns Jesus Christus geboren worden ist als das Licht, das in der Finsternis der Nacht leuchtet. Mitten in der Nacht der Menschen - das ewige Licht Gottes: Dies ist die wahrhaft frohe Botschaft von Weihnachten, deren Freude und Trost ich Ihnen von Herzen wünsche: Gesegnete und vor allem lichtvolle Weih-Nacht!

+ Bischof Kurt Koch. Der bekannte Theologe ist seit 1996 Bischof in Basel.

Die Predigt ist publiziert in Kurt Koch, Vom Wunder der Weihnacht. Meditationen zu Advent und Weihnachten (Toposplus Taschenbücher, 507), Kevelaer 2003, 73-77.