HELMUT LODER'S Adventkalender
2006 Gott auf Augenhöhe |
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2006 - Gott auf Augenhöhe

12. Dezember

Der Zementchristus

Heute: Eine Geschichte zum Nachdenken aus Süd-Korea nach einem Schauspiel von Kim Chi-Ha

Vor einer Kathedrale ist - für alle sichtbar - eine Jesusstatue aus Zement errichtet. Der zementene Jesus trägt eine goldene Krone. Ein eiskalter Wintertag bricht gerade an. Zu Füßen der Statue liegen drei zerlumpte Bettler, steif vor Kälte und Hunger. Ein wohlbeleibter Priester hastet in die Kirche, dann ein vornehm gekleideter Mann, aber keiner gibt einen Groschen. Ein Polizist taucht auf, der sofort pflichtbewusst die drei Bettler verjagen will. Doch er hat ein bisschen Mitleid und überlässt sie ihrem Schicksal. Einer der drei Bettler beginnt nun laut zu rufen: „Ich habe kein Zuhause, keine Familie, nicht einmal ein Grab, wo ich von aller erlittenen Qual ausruhen könnte. Was soll dieses miserable Leben? Da ist nur Nacht, Hunger und Kälte.“
Plötzlich, mitten in diesem Geschrei, nimmt er die Jesusstatue wahr. Flüchtig flackert ein Hoffnungsschimmer in seinen Augen auf. Aber dann bricht es aus ihm heraus: „Dieser Jesus, er mag vielleicht ein Retter sein für die, die zu essen, warme Kleidung und ein Zuhause haben. Aber was hat er mit Bettlern wie mir zu schaffen?“

Und zu der Statue gewandt: „He, du, sie nehmen Zement oder Bronze oder Gold, um dich unsterblich zu machen und damit du ja nicht kaputt gehst! Aber wer bist du Brocken Zement eigentlich für mich? Kommt, helft mir, ihn zu zertrümmern!“ - Überwältigt von Schmerz, Selbstmitleid und Zorn sinkt der Bettler tränenüberströmt zu Jesu Füßen nieder.

In diesem Augenblick spürt er etwas Nasses, wie Tropfen auf seinen Kopf fallen. Verwirrt blickt er auf und entdeckt, dass der zementene Jesus weint. Ja, es ist wahr. Dicke Tränen rollen über sein Gesicht und fallen direkt auf den Bettler. Und wie der ihm ins Gesicht schaut, bemerkt er plötzlich die goldene Krone auf seinem Kopf. Er springt auf: Wenn er diese Krone verkaufen würde? Er bekäme endlich etwas zu essen und könnte warme Kleider kaufen! Fest umgreift er die Krone und reißt sie los.

Genau in diesem Moment hört er eine Stimme: „Nimm sie nur! Viel zu lang war ich eingeschlossen in diesem dunklen und einsamen Gefängnis aus Zement. Wie lange habe ich auf diesen Moment meiner Befreiung gewartet, um endlich wieder an der Seite von euch Armen und Elenden zu sein. Euer Leiden zu teilen und Licht zu bringen in eure Finsternis. Du hast mich gerettet, befreit, meinen Mund wieder geöffnet. Als du die goldene Krone von meinem Haupt nahmst, konnte ich wieder sprechen. Nimm sie, und teile sie mit deinen Freunden. Für mich ist eine Dornenkrone genug. So wie du meinen Mund geöffnet hast, so tue nun das Übrige und befreie mich von meinem zementenen Kleid. Nur Leute, wie du, so verachtet und entrechtet, können das tun.“

In diesem Augenblick kommen der Priester und der Geschäftsmann wieder aus der Kirche und auch der Polizist ist wieder da. Voller Entsetzen entreißen sie dem Bettler die goldene Krone und setzen sie dem zementenen Jesus aufs Haupt. Dem Bettler aber werden Handschellen angelegt, und der Polizist führt ihn ab. Und Jesus, der zementene Jesus, kehrt zurück in seine bisherige Gestalt - eine leere, ausdruckslose Statue, stumm, nichts weiter als ein Stück Zement.

aus: KonfMagazin, Menschen brauchen Menschen, F. Reinhard Verlag, Basel, 1989, S. 14

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