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Johannes Thiele

Johannes Thiele
Geboren 1954, war nach dem Studium der Theologie, Philosophie und Germanistik als Programm- und Verlagsleiter tätig. Heute ist er freier Autor und Publizist sowie Verleger eines eigenen Buchverlages. Zahlreiche Veröffentlichungen.

Das Marienbild ist aus dem Genter Altar von Jan van Eyck. Es zeigt sie als Himmelskönigin und - ganz selten - als Lesende. Schon deshalb verbindet mich mit ihr viel.

 

2007

Meine Maria

Meine Maria – kann man, darf man das sagen? Wie peinlich ist heute solch eine Aneignung? Und dann noch von jemandem, dem eine gewisse Distanz zum kirchlichen Selbstverständnis nachgesagt werden kann. Doch Maria gehört für mich nicht nur zur Tradition meines Glaubens, sondern zu meinem religiösen Lebensweg.
Gegenüber Gottvater, Sohn & Co. hatte Maria schon in meiner Kindheit einen deutlichen Vorteil: Sie war sichtbar. Das Hauptschiff der Kirche mit dem grandiosen Altarraum bot den zentralen Ort für den kleinen Messdiener, aber näher war ihm die Madonna auf dem Marienaltar im Seitenschiff. Und Jesus? Der Mann am Kreuz beschäftigte die Phantasie eines katholischen Jungen nicht sonderlich. Es gibt keine sanften, freundlichen Bilder von Jesus im Kirchenraum; das Gemälde des mit den Jüngern durch das Kornfeld wandernden Heilands hing im Schlafzimmer meiner Großeltern. Aber die Mutter, die war sichtbar in allen Kirchen, sie appellierte an unbewusste Gefühle.
Die Madonna ist in „Gedanken, Worten und Werken“ die große Fürsprecherin der Menschen. Sie ist warm, leuchtend und weich – und zugleich stark und voller Kraft. Sie weckt ein unglaubliches Zutrauen, dem fernen Gott Zuwendung und Hilfe abringen zu können.
Für mich ist es so: Mit Maria konnte ich früher und kann ich auch heute gut allein sein. Sie steht nicht im Mittelpunkt, doch sie war sichtbar, Gott war es nicht. Die Frau hatte ein Gesicht, Gott hatte keines.
Erst sehr spät fühlte ich mich herausgefordert, aus kindlichen Glaubensmustern herauszuwachsen. Es hat lange gedauert, bis ich vor dem Marienaltar meine Kinderschuhe zurückgelassen habe. Heute weckt Maria keine Gefühle mütterlicher Symbiose mehr in mir, sie ist aber auch nicht die enterotisierte Demutsgestalt, die vielen Frauen heute Probleme macht. Sie vitalisiert vielmehr meine inneren Frauenbilder – stärker, reiner und leuchtender, sinnlicher auch als jedes andere Symbol. Von Maria kann ich noch immer nicht distanziert sprechen. Sie hat sich allen meinen Fluchtversuchen entzogen. Sie ist immer noch in meinem Herzen.