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Marianne Graf

Marianne Graf , VS-Lehrerin in Fernitz, kämpft seit 14 Jahren in ihrer Freizeit unermüdlich gegen die Armut in Albanien, tritt für die Menschenrechte ein und arbeitet am Aufbau des Bildungs- und Gesundheitswesens mit. Zahlreiche Auszeichnungen ( Menschenrechtspreis des Landes Steiermark, "Doktor honoris causa", "Mutter Teresa-Orden" — höchster albanischer Staatsorden für Marianne Graf).

2006

Maria

Es war während einer meiner Hilfseinsätze in Albanien.

Erhebungsarbeit führt mich in ein bitterarmes Bergtal, in dem wir Dorfhilfe leisten wollen. Auf halbem Weg kommt uns tief gebückt eine Frau entgegen, am Rücken ein riesiges Bündel Farnkraut, Stauden und Klaubholz schleppend. Wir wechseln ein paar Worte und sie gibt mir zu verstehen, dass sie schon von mir gehört hat. Gleichzeitig lädt sie uns in ihre armselige Hütte ein. Bald jedoch verschwindet sie, um mit einem Fetzenbündel wiederzukehren. "Der Gott hat dich zu uns geführt, schau, da ist sie!", sagt sie freudestrahlend, während sie mit besonderer Sorgfalt, ja Zärtlichkeit, ein gerahmtes Bild auswickelt und es mir vor die Augen hält. Benommen stehe ich da und entdecke neben Schimmel- und Wasserflecken nur äußerst vage Umrisse eines Gesichtes. "Heilige Maria, ist er nicht schön!", flüstert sie.

DER GOTT — SIE — hatte sich die einfache Frau versprochen oder unbewusst Maria als das mütterliche Angesicht Gottes gedeutet? Ich erfahre, dass sie das Bild als ihren größten Schatz mehr als 30 Jahre in einer Kiste im Acker vergraben hatte. Kein Wunder, dass es zerstört ist. Doch die Frau nimmt diesen Zustand nicht wahr. Für sie ist es schön, sie liebt es, die Schönheit hat sich in ihr Herz gebrannt.
In diesem Augenblick habe ich nichts gesehen und alles gespürt - alle Angst der letzten Jahrzehnte, dass ihr heiliges Kleinod genommen wird, alle Angst, dass ihr oder der Familie mit dem Auffinden des religiösen Zeichens im ehemals ersten und einzigen atheistischen Staat der Welt Arbeitslager oder Tod drohen. Aber auch alle Hoffnung, die sie in Maria legte. Maria, der Verheißung und Enttäuschung widerfuhr, die selbst Aufleben und Absterben ertrug, die in höchste Höhen und die tiefsten Tiefen des Menschsein blicken musste, von ihr holte sie Stärke und Trost. Von wem sonst sollte sie gehört und verstanden werden, als von jemandem, die selbst als Frau gelitten hat? Ich verschweige nicht, dass ich das Bild gerne gehabt hätte, doch ich behielt den Wunsch für mich.

Noch am gleichen Tag fuhren wir nach Tirana zurück und der Zufall wollte es, dass ein Bekannter mir albanische Krippenfiguren gab. Solche zu suchen, gab ich in Auftrag. Schwer zu finden seien sie gewesen, eigentlich gar keine Krippenfiguren, doch ...... Verlegen stotternd holte er sie hervor. Betroffen nahm ich die Marienfigur in die Hand. Wie sehr erinnerte sie mich an das Heiligenbild. Wie das in der Erde versteckt war, war diese aus Lehm geformte Figur versteckt in der Alltäglichkeit des Lebens. Nur eine Tonfigur und doch für mich zum Besonderen erhoben, hatte mein Bekannter doch mühsam einen Heiligenschein geformt und an den Kopf geklebt. Zaghafter Beginn der Zuwendung zu spirituellen Fragen nach 50 Jahren Entfremdung. "Sie ist die schönste von allen Figuren", meinte er, "bei ihr spürt man das Leben!"

In einem Straßencafe philosophierten wir weiter. "Lange haben wir, durften wir Maria nicht haben. Dabei beginnt mit ihr das Leben. Für den Tod waren schon damals die Männer zuständig." Welch starke Worte! Die Kultur des Todes, der Vernichtung, von Männern gemacht, durch Rüstungswahnsinn perfektioniert, steht der Kultur des Lebens, ausgedrückt durch liebendes Muttersein und starkes Frausein, gegenüber.
Welche ist stärker? In frommer Verehrung wartend, dass mit Hilfe Marias, die den Heiland geboren und deshalb zur Heilenden wird, letztere siegen wird, genügt nicht. Unser konkreter Einsatz ist gefordert, damit die Kultur des Lebens in der gesamten Schöpfung wieder den ersten Platz einnimmt.

So ist mir Maria zum einen, wenn wir es zulassen, die still in unser Leben Wirkende, Tröstende, Mitleidende, nicht sichtbar, wie das Bild in den rissigen Händen der Häuslerin. Zum anderen ist sie mir Beweis für die weibliche Seite Gottes, die mit mütterlicher Kraft auf uns einwirken will, dass wir all unser Engagement für die Kultur des Lebens einbringen.

Marianne Graf