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Helmut Loder - Rezensionen und Buchempfehlungen - Der Waschzettel

Arnulf Zitelman
Kein Ort für Engel

Zugegeben, es ist kein entspannendes, kein liebliches Buch. Eher schon ein ordentlich aufregend kritisch-zärtliches Buch. Noch dazu eines über die Schule und ihre Probleme. Arnulf Zitelmann hat einen topaktuellen „Schulroman“ geschrieben. So stehts im Untertitel seines Buches „Kein Ort für Engel“. Aber gleichzeitig ist es auch eine temporeiche und realistische Kriminalgeschichte im Schulmilieu, verfasst für aufgeweckte Jugendliche und erwachsene Leser. Und für „Pädagoginnen und Pädagogen“!

Arnulf Zitelmann kennt sich nicht nur in der Bibel, sondern auch in der Schule aus, war er doch selbst als evangelischer Pfarrer jahrelang Religionslehrer in deutschen Gymnasien. Er weiß, wovon er schreibt. Er kennt seine „Pappenheimer“ und die Schulsituation – zumindest in Deutschland – ziemlich gut. Das stellt man schon nach wenigen Seiten fest. Zitelmann kennt seine Helden, seine Feiglinge, er kennt das Milieu, den Woog (ein Freizeitgelände und Jugend-Treffpunkt in Darmstadt). Und er spart nicht mit Kritik. „Für das Leben lernen"? Die Lateiner hatten schon bessere Witze.

Kein Ort für Engel. Damit ist die Schule gemeint. Im Klappentext heißt es:

„Die Schule ist kein Ort für Amos Filip. Deshalb geht er nur selten hin. Dort sitzen die Arbeitslosen von morgen, meint er. Amos ist 17 und die Welt der Erwachsenen scheint ihm wenig einladend. Sein Lieblingsplatz ist der Alte Friedhof, wo Thuja-Bäume stehen, deren Duft ihn an seine Heimat Ecuador erinnert. Aber als eines Tages seine Freundin Florcita und die junge Lehrerin Märte von einem Mitschüler erpresst werden, setzt er alles ein – und bezahlt einen hohen Preis.“

Klingt vielversprechend und ist es auch. Spannend, abwechslungsreich und mit viel Tiefgang lässt er uns teilhaben an seiner Sicht der Schule von heute.

Und die ist beileibe kein Ort mehr für Engel. Der Autor verlegt die Geschichte des notorischen Schulschwänzers in den Zeitraum einer Woche, vom 30. August bis zum 7. September. In seiner ungemein lebendigen Schreibweise zeichnet Zitelmann einen wichtigen Ausschnitt des Lebensweges von Amos Filip Lapaz nach. Mit seinem Gespür für einen spannungsgeladenen Aufbau und viel Sensibilität für scheinbar nebensächlichste Details entwickelt er ein enormes Fingerspitzengefühl beim Beschreiben der Personen: Amos Filip ist anders als seine Klassenkameraden in der "Woogie". Er trägt die Haare lang mit geflochtenen Zöpfchen und Perlen daran. Er übernachtet auch schon mal auf dem Friedhof, weil ihn der Duft der Thuja-Bäume an seine Kindheit in Ecuador erinnert. Amos Filip ist alles andere als ein angepasster Typ. Aufrecht und mit viel Eigensinn, ist er auf der Suche nach dem wahren Leben außerhalb der Schule. Er verkauft Laugenbrezen, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen und verweigert sich den Drogen(dealern).

Die Schule besucht er nur sehr unregelmäßig. Sein Vater Luz lebt nicht mehr, und das ist für den Jugendlichen schwer zu begreifen, da er zu seinem Vater ein inniges Verhältnis hatte. Mit seiner Mutter versteht er sich nicht besonders. Sie hat auch wenig Zeit für ihren Sohn, da sie wieder auf Partnersuche ist.
Bleibt nur noch Märte, eine junge Lehrerin, bei der Amos zur Zeit wohnt, solange seine Mutter auf Reisen ist. Zwischen Märte und ihm stimmt die „Chemie“. Sie sind beide sensibel und leiden an der Grobheit ihrer Umwelt. Als Märtes Kater Macho eines Tages tot an der Haustür hängt und Florcita mit Nacktfotos erpresst werden soll, entschließt sich der friedliche Amos, den Kampf gegen den skrupellosen Mitschüler und Dealer Dismas Kotter aufzunehmen.

„Plötzlich meldete sich das Gotchi in seiner Tasche. »Ya estoy harto!«, fluchte er, zog das Kükenei hervor und betrachtete es missmutig. »Schau dir das an, jetzt wachsen dem Biest auch noch Engelsflügel!«
»Du kannst es im Internet beisetzen«, sagte Märte. »Mit Räucherstäbchen und Blumen, das machen die Kids in meiner Neunten. - Hat dein Gotchi einen Namen?« »Quatsch!«, sagte er. »Das Ding gehört nicht mir. Flor hat es mir abends im Biergarten zugesteckt. Und jetzt quengelt das blöde Gotchi den ganzen Tag. Süßigkeiten will es von mir haben, und ich soll mit ihm spielen, dauernd seinen Dreck wegmachen ...«
»Wie die Leute halt sind«, meinte Märte. »Die wollen verhätschelt sein, bis ihnen die Flügel wachsen.« »Glaubst du an Engel?«, fragte er plötzlich. »Du gibst doch Reli, sprecht ihr da über Engel?«
Märte strich ihr Haar zurück. »Engel?«, wiederholte sie. »Eigentlich nicht. Kannst du dir denn so was vorstellen?« »In Wirklichkeit?«, fragte er. Märte nickte.
»Keine Ahnung«, sagte er. »Jedenfalls sehen sie bestimmt nicht aus wie Menschen mit weißen Hühnerflügeln. Eher abstrakt. Vielleicht wie Computer-Grafik. Lauter selbstbewegte bunte Linien. Schön wäre das, wenn man die mal zu sehen bekäme.«
»Da kann ich mir überhaupt nichts drunter vorstellen«, sagte Märte. »Und wenn sie keine Menschengestalt haben, können sie ja aussehen wie alles Mögliche, auch wie die Gießkanne da vorn unter der Blumenampel.« Märte lachte laut auf.
»Ich finde das nicht komisch, wenn du mich auslachst«, sagte er gereizt.
»War doch nicht so gemeint«, lenkte Märte ein. »Du hast nichts kapiert«, sagte er.
»Das Ganze pendelt um verschiedene Achsen. Deswegen denke ich an Computer-Grafik. Ist das so schwer zu begreifen?« »Lass gut sein«, sagte Märte. »Ich komm ehrlich nicht nach. - Und du glaubst an so was, Engel, Himmelsmusik und all das?« »Klar«, sagte er. »Du etwa nicht?«

Die Schule, kein Ort für Engel. Aber Zitelmann kommt immer wieder von neuem auf das Bild des Engels zurück. Ob in Gestalt des monumentalen Bronzeengels auf dem Hauptweg des Friedhofs, als knieender Engel mit gefalteten Händen auf einem Grab, als unerreichbarer Giebelengel am Mausoleum. Sie begleiten ihn, sind Gesprächspartner in Gedanken, Boten für das Geheimnis und Adressaten seiner Bitten.

„Mit der Bleistiftspitze zeigte Märte auf die Kopfleiste: »Der Prophet Amos.«
»Tatsächlich, ich steh in der Bibel«, sagte Amos Filip. »Und was schreibt die über den Mann?«
»Nicht viel«, sagte sie. »Amos hatte sich mit den Mächtigen und Reichen angelegt. Dabei war er nur ein Bauer und besaß ein paar Feigenbäume. Natürlich ist nicht viel von seinen Reden übrig geblieben, gerade nur ein paar Seiten, siehst du. Der Mann hat schließlich vor tausenden von Jahren gelebt. Aber lies mal, die Stelle hier zum Beispiel!« Märtes Stift wies auf ein paar Sätze, die sie mit gelbem Textmarker hervorgehoben hatte. »Das hat er gesagt: Ich will sie nicht verschonen, spricht Gott, der Herr. Denn sie verkaufen den Gerechten für Geld und den Armen um den Preis von ein Paar Schuhen. Sie treten nach dem Kopf der Armen und drängen den Wehrlosen vom Weg.« Märtes Stift wanderte weiter: »Weh denen, die Recht in Unrecht verkehren, die Gerechtigkeit zu Boden stoßen. Sie hassen den, der vor Gericht auf Recht dringt, und verabscheuen den, der ihnen die Wahrheit sagt.« Sie schlug eine Seite um: »Hört dies, die ihr die Armen tretet, die Hilflosen im Land aushungert - geschworen hat Gott bei seinem Dasein: Niemals vergesse ich all eure Verbrechen!«
Märte nahm ihm das Buch aus der Hand. »Also, Amos Engelsforscher, da hast du's: Von diesem zornigen Mann der Bibel hast du deinen Namen.«
»Kaum zu glauben«, sagte er. »So was steht unter meinem Namen in der Bibel?«
»Ja, und noch mehr von solchen Sachen«, sagte sie. »Darüber reden wir morgen in Reli.«
Märte nahm die Bibel mit zu ihrem Arbeitsplatz und setzte sich an den PC.
»Schöne Worte«, meinte Amos Filip, »aber die Wirtschaft interessiert sich einen Dreck für den Rest der Welt. Da hast du mit der Bibel keine Chance, Märte.«
»Doch, die haben wir. Solange die Leute Christen sein wollen«, widersprach sie. »Unsere Bibel tritt für Geschwisterlichkeit ein, auch in Politik und Wirtschaft. - So, Amos, und jetzt zieh Leine. Ich muss meine Stunden für morgen vorbereiten: zwei Stunden Reli, Doppelstunde Sport mit dem kleinen Gewusel, nachmittags Spanisch. Wenn es nicht zu spät wird, kannst du abends noch mal bei mir reinschauen. Tschüs dann!«

Eine sonderbare Sache war das mit seinem Namen, sagte sich Amos Filip, als er zur Brezelstation in die Heinrichstraße radelte. Was hatten seine Eltern sich dabei gedacht? Ihm den Namen von diesem rebellischen Mann zu geben? Er müsste Mam danach fragen. Obwohl, die kannte die Bibel vermutlich nicht besser als er. Nämlich gar nicht. Natürlich hatten ihn seine Eltern taufen lassen. Katholisch, das verstand sich von selbst in Quito. In Reli aber hatte er noch nie von seinem Namensbruder gehört.“

Der Roman ist spannend geschrieben und hakt bei den Problemen heutiger Jugendlicher ein. Neben den Alltagsproblemen wie Orientierungslosigkeit, Gewalt, Drogen oder Liebe wirft das Buch die Frage Nummer 1 auf, ob die Schule, so wie sie heute existiert, noch zeitgemäß ist und auf Dauer überleben kann? So ist der Roman nicht nur ein beeindruckendes Leseerlebnis, sondern stellt auch eine sinnvolle und ernstzunehmende Diskussionsgrundlage für Schüler, Lehrer und Eltern dar.

Das Buch mit 239 Seiten ist im Verlag Beltz & Gelberg als Gulliver Taschenbuch 843 erschienen.

(veröffentlicht in den CPB 1/2003 unter der Rubrik Umgeblättert)

Helmut Loder

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