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Helmut Loder - Rezensionen und Buchempfehlungen - Der Waschzettel

Tim Wynne-Jones
Flucht in die Wälder

Hand aufs Herz, wann haben Sie das letzte Mal ein gutes Jugendbuch zur Hand genommen und in einem Satz durchgelesen, mit feuchten Augen verschlungen? Und nicht nur darin geschmökert? Wird wohl schon eine Zeitlang her sein! Dabei gibt es zur Zeit auf dem Buchmarkt nicht nur eine Unzahl hervorragender spannender, ungemein berührender Romane und Erzählungen, sondern es sollte besonders für Religionslehrer eine Verpflichtung sein, in diesem ergänzenden Bereich in etwa auf der Höhe der Zeit zu sein, sich immer wieder einen vernünftigen Überblick zu verschaffen.

Denn es gibt sehr viele ausgezeichnete Bücher für Jugendliche und über unsere Jugend! Genug der lesepädagogischen Tränendrüse, des moralischen Zeigefingers, schnell ein gutes Beispiel aufgeschlagen und zur Lektüre empfohlen. Dem kanadischen Autor Tim Wynne-Jones gelang schon 1995 mit seinem Romanerstling „Flucht in die Wälder“ ein spannendes und mit sehr viel psychologischem Fingerspitzengefühl geschriebenes Jugendbuch. Die Story ist einerseits lebensnah „realistisch", andererseits mit beeindruckend poetischem Tiefgang verfasst und endet trotz eines nicht gerade Erfolg versprechenden Schlussteils mit der begrenzten Aussicht auf ein "Happyend".

Ausgangspunkt der Geschichte: Die heruntergekommene Kleinstadt Pharaoh im Südosten Kanadas. In dieser Einsamkeit begegnen sich zwei Menschen, die verschiedener nicht sein könnten: der 14-jährige Burl Crow, den sein Vater nicht akzeptieren will, weil er ihn für einen Versager hält, und Nathaniel Orlando Gow, der Maestro, ein umjubelter Pianist. Nur eines haben die beiden gemeinsam, sie sind beide auf der Flucht: Burl vor dem Vater, der ihn erdrückt, misshandelt und ihm die Aufdeckung seiner außerehelichen Affären (Fluchtversuche) übel nimmt, und der Maestro vor der Last seines Erfolgs. Er will endlich in Ruhe ein Oratorium schreiben.

Burl Crow erlebt seinen Vater als äußerst gewaltbereiten und aggressiven Menschen, der ihm alles wegnimmt, was ihm gehört, sogar die Süßigkeiten, die ihm seine Großmutter zu Ostern schickt, der ihn bei jeder sich bietenden Gelegenheit demütigt und vor dem nur sicher ist, was Burl im Kopf trägt und nicht seinen Zorn erregt. Burls Leben ist nicht immer so trostlos gewesen. Früher hatte ihn sein Vater häufig in die Wälder, an die Seen zum Angeln mitgenommen. Burl lernte eine Menge über die Wildnis. Aber Zuneigung und Liebe spürt er schon lange nicht mehr.

Im Prolog schildert der Autor, wie Burl ungewollt eine geheime Verabredung seines Vaters am Angelplatz stört und wie sie dabei Zeuge werden, dass ein weißes Klavier durch einen Hubschrauber in die Wildnis der Wälder Kanadas transportiert wird. Überraschend oft nimmt Wynne-Jones auf religiöse Aspekte und Bilder aus dem Alltag des Buben Bezug.

"Burl nahm das Ereignis an Cals Angelloch, hüllte es in ein Tuch aus Schweigen und verstaute es in einer kleinen Schublade in seinem Kopf. Die Erinnerung sollte nicht lose in seinem Schädel herumliegen, sonst konnte sie ihm möglicherweise im falschen Moment durch den Mund herausrutschen. Die Erinnerung fügte sich aus Teilen zusammen, die wie die Perlen von Granny Robichauds (Anm d. V.: seine Großmutter) Rosenkranz waren. Er rief sich ins Gedächtnis zurück, wie sie beim Beten den Rosenkranz durch die Finger gleiten ließ. Es gab kleine Perlen und große Perlen, die alle von einer Schnur zusammengehalten wurden. Sie halfen ihr dabei, bei den vielen Gebeten, die sie sprechen musste, nicht durcheinander zu kommen.
Auch an dem Rosenkranz in Burls Fantasie waren viele Perlen aufgefädelt: die Weißfische, die geheimnisvolle Blondine, der Ausdruck, der in den Augen seines Vaters lag. Etwas, das mehr war als Zorn. Vielleicht sogar Furcht.
Aber die prächtigste Perle von allen war der Flügel. Diese Perle ließ Burl öfter als alle anderen durch die Finger gleiten. Sie war wie ein warmer, glatter schwarzer Goldklumpen in seinem Kopf. Mit seinen vierzehn Jahren war Burl fast so groß wie Cal, allerdings ohne dessen Wülste an den massigen Schultern und dem Rauch und ohne Cals Handgelenke, die wie Axtgriffe waren. Neben Cal sah Burl wie ein Birkenschössling im Winter aus. Vierzehn. ... Er war gut darin, ein Geheimnis zu hüten, Stillschweigen zu bewahren. Wenn er nachts wach lag und einem Zug lauschte, der irgendwohin fuhr, und wenn er im Geiste mit dem Zug die Schienen entlang sauste und sich ausmalte, dass auch er irgendwohin unterwegs war, behielt er dieses Geheimnis für sich. Am nächsten Morgen konnte man ihn von oben bis unten durchschütteln, ohne dass ein Zug aus ihm herausfiel. Man musste dafür sorgen, dass Cal es niemals an einem finden konnte. Er würde es sonst für sich selbst haben wollen und es ohne zu zögern an sich reißen."
(16)

Burls Mutter ist medikamentensüchtig, hat sich längst aufgegeben und ist ihm keine große Hilfe in seinem "Kampf" gegen den oft betrunkenen Vater. An einem herrlichen letzten Augustsommertag kommt es zum Eklat: Er überrascht seinen Vater bei einem geheimen Rendezvous mit der Kellnerin Tanya und flieht daraufhin völlig überstürzt in die Tiefe der kanadischen Wälder. Er will nur eines: Weit weg von seinem Vater, seinem Zuhause und dem bisherigen Leben. Mit beeindruckender Detailgenauigkeit und einer Sprache, die in Bildern schwelgt, schildert Wynne-Jones die atemberaubende Flucht vor den erneuten Gewalttätigkeiten seines Vaters durch den Wald:

"Es war eine Nacht voll seltsamer Musik: der Regen, der auf das Blechdach hämmerte, ein Rascheln im Gebüsch, nicht weit von ihm entfernt. Eine Eule, ein Schreiender Ziegenmelker. Wölfe. Ein Klavier. Nein. Das war bloß ein Traum. Aber es klang so echt. In Grannys Kirche in Dryden gab es Engel. Ob es so klang, wenn sie ihre Harfe spielten? Ein kalter, dünner, ferner Ton, so süß wie Brombeeren, wenn sie noch nicht ganz reif sind."
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Und plötzlich findet er sich an einem See wieder, mit einer Pyramide mit großen Glasfenstern und dem Klang von Musik aus einem Klavier. Tim Wynne-Jones, der angeblich selbst in den Wäldern von Ontario lebt, hat die Figur des Musikers, der hier zu komponieren versucht, bis ins Detail nach dem exzentrischen kanadischen Pianisten Glenn Gould entworfen. Burl ist irritiert und fasziniert von dem exzentrischen "Maestro". Eine zaghafte, eigenwillige Freundschaft wächst in kurzer Zeit heran. Endlich spürt Burl, was Geborgenheit bedeuten kann. Als Gow in die Stadt zurückkehrt, überlässt er das Refugium dem Jungen, der eine Weile wie im Traum dahinlebt.

"Ich bin aus Toronto weg, um dem Großen Schatten zu entkommen. Der Schatten besteht aus Anrufen und Geschäftsessen und Leuten, die immer wollen, dass ich meinen Ruhestand aufgebe und in Santiago auftrete oder in New York unterrichte oder in Moskau einen Vortrag halte oder mich einfach auf einer Party blicken lasse und wie ein Komponist aussehe. Der Schatten ist die ständige Störung. Ein Ungeheuer, das mich davon abhält, das hier zu schreiben. Und es ist sehr viel beharrlicher und aufdringlicher als unser Besucher heute Nacht. (Ein Bär wollte ins Haus eindringen) ... Von diesem See hat mir ein Herr im Zug erzählt", sagte er und beugte sich auf seinem Stuhl vor. In seinen Augen loderte wieder das Feuer. "Er hatte durch einen Archäologen davon gehört. Der Ort hier befand sich auf einem uralten Transportweg der indianischen Ureinwohner. Genau an diesem Strand war vor zehntausend Jahren ein Lager ... Als ich dann hierher kam, wurde mir klar, dass ich die Einsamkeit noch mehr brauchte als die Gesundheit und sogar noch mehr als die Stille. Ich war mir sicher, dass ich nur in völliger Abgeschiedenheit das sehen könnte, was der heilige Johannes sah, wobei ich allerdings einräumen muss, dass sich das hier mit seiner kleinen griechischen Insel nicht vergleichen lässt." Aus dem Durcheinander, das sich vor ihm aufhäufte, wühlte der Maestro ein Buch hervor. Es war die Bibel. "Kennst du dich in der Bibel aus?" Burl schüttelte den Kopf. "Die Offenbarung des Johannes. Da geht es richtig wild zu", sagte der Maestro begeistert. "Der letzte Teil des Neuen Testaments. Geschrieben von einem Johannes. Weil er ein Christ war, wurde er auf eine kleine Insel namens Patmos verbannt. Ich liebe diesen Namen. Ich habe mir überlegt, dass ich den Eröffnungssatz Patmoshäre nenne. Verstehst du das? Bist du ein Christ, Burl?" "Meine Großmutter ist religiös." "Wie klug von ihr. Das ist ein ziemlicher Jonglierakt. So viele Wahrheiten, an denen man gleichzeitig festhalten muss. Ich bin mir nicht sicher, dass ich das fertig kriege, aber es ist eine phantastische Geschichte!" ... (Gow spielt ihm einen Ausschnitt vor) "Das ist die Stille im Himmel, nachdem das Lamm das siebente Siegel geöffnet hat. In der Bibel dauert die Stille eine halbe Stunde an. Ich bin schwer in Versuchung, das Publikum eine halbe Stunde lang der Stille auszusetzen, aber das lasse ich mir noch ausreden."
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Voller Poesie und warmherziger Anteilnahme beschreibt Wynne-Jones die Gefühle des Jungen. Behutsam erzählt er von seinen aufkeimenden Hoffnungen, ohne dabei die bedrückende Wirklichkeit auszusparen. Nachdem Nathaniel Gow Hals über Kopf abreist und Burl in seinem Camp am Ghost Lake mit seinem Einverständnis zurück bleiben darf, lebt er eine Weile allein in dem Haus, und verdrängt solange seine ungeklärte Situation, bis seine Vorräte im Herbst allmählich zu Ende gehen und er schließlich als Teilzeitkraft von Bea Clifford, der Besitzerin einer Hubschrauber-Transportfirma eingestellt wird. Von ihr erfährt er auch vom plötzlichen Tod des Maestros, der Burls Seelenfrieden ein jähes Ende bereitet. Sein Refugium ist in Gefahr. Verzweifelt sucht er nach einer Möglichkeit, es zu behalten. Zwischenzeitlich gibt er sich als unehelicher Sohn des Pianisten aus, begreift aber bald, dass diese Lüge zu nichts führt, dass er eigentlich ein weit besseres Pfand besitzt: die Noten des Oratoriums - das letzte Werk des Maestros. Die sind für die Erben und Nachlassverwalter Millionen wert. Burl plant ein Tauschgeschäft. Er möchte nur die Hütte behalten dürfen. Dazu nimmt er Kontakt mit einer Musikredakteurin und guten Freundin von Gow auf und lernt in der Folge die verwirrende Welt der Erwachsenen kennen. Geldgier, Geltungsdrang und Berechnung bestimmen ihr Verhalten.

Beim Versuch, das Manuskript des Oratoriums aus dem Camp zu bergen, gerät er in Schwierigkeiten. Er kehrt in sein Elternhaus zurück, in der schon Tanya, die neue Lebensgefährtin seines Vaters wohnt, holt seine letzten Habseligkeiten und wird auf dem Weg in die Hütte, auf der neuerlichen Flucht vor seinem Vater Cal, der ihn unerwartet aufgespürt hat und nun verfolgt, von seiner früheren Lehrerin Natalie Agnew und ihrem Mann David mit großer Freude aufgenommen und beherbergt. Sie machen ihm das Angebot, dass er - wann auch immer – jederzeit zu ihnen zurückkommen kann und herzlich willkommen ist. Er erreicht die Hütte, als plötzlich sein Vater auftaucht und es zum Streit und zu einem heftigen Kräftemessen kommt. Sinnlos betrunken setzt der Vater die Hütte in Brand und hilflos muss Burl zusehen, wie das für ihn so wertvolle Oratorium zu Asche verbrennt. Sein Vater kommt dabei fast ums Leben und wird von Burl unter Aufbietung aller Kräfte gerettet. Burl ist mit jedem Schritt, den er weg von zu Hause, machte, erwachsener geworden. Indem Burl den Hass überwindet, wächst er über sich selbst hinaus.
"Flucht in die Wälder" ist eine poetische, sensible und doch spannende Geschichte. Hintergründig angelegt mit Dutzenden Stellen, über die es sich zu philosophieren lohnt, mit kritischen und ermunternden Facetten, ein Roman, der Hoffnung gibt gegen die Dunkelheit des "Großen Schattens", gegen das Böse und Unverständliche.

Am Ende kann Burl seine Gefühle zeigen:

"... fing Burl zu weinen an. Er hatte nie die Zeit dazu gehabt. Immer war der nächste Tag zu bedenken gewesen. In seinem Leben hatte es keinen Platz für Trauer gegeben, auch wenn die Trauer immer da war und gleich hinter der Türe ihre Kreise zog. Es war, als hätte er den größten Teil seiner Kraft darauf verwendet, sie in Schach zu halten. Das schaffte er jetzt nicht mehr. Er weinte um Laura, die schon so lange fort war. Er weinte um den Maestro. Er weinte um seinen Vater. Er weinte um seine Mutter. Mit einem Mal war es einfach zu viel geworden. Die Barrikaden, hinter denen er sich verschanzt hatte, knickten ein. Die Trauer trat ein Loch in seinen sorgfältig aufgebauten Damm und ein ganzer See von Tränen wartete nur darauf, hervorbrechen zu können ... In seinem Kopf blitzte eine Telefonnummer auf. "Ja, das ist meine Haltestelle", sagte er. Er ging durch den Zug, um sich zu vergewissern, dass sein Vater gut versorgt wurde. Erst da fiel Burl auf, dass ihm jemand ein richtiges Paar Schuhe besorgt hatte. Sie sahen noch ganz neu aus und passten ihm gut."
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Burls Tränen sind kein kitschiges Happy End, vielmehr eine wohltuende Befreiung. Er ist nicht mehr in Gefahr, den Halt zu verlieren, er ist erwachsen geworden. Aus dem "wilden Flüchtlingskind aus den Wäldern" ist ein junger Mann geworden, der seinen Weg gehen muss. Und dafür hat er sogar neue Schuhe bekommen. Mit Recht ein tolles Buch. Mehr als ein schnelles Leseabenteuer für 14-17jährige und Erwachsene.

Zum Autor

Tim Wynne-Jones, 1948 in England geboren, lebt als freier Schriftsteller in den Wäldern von Ontario in Kanada. "Flucht in die Wälder" war sein erster Roman und ist in vielen Ländern erschienen. 1998 war das Buch auf der IBBY-Ehrenliste und wurde mit dem Boston Globe Horn-Book Award ausgezeichnet.
Tim Wynne-Jones: Flucht in die Wälder. Aus dem Amerikanischen von Cornelia Krutz-Arnold. Carl Hanser Verlag, München Wien 1999. 270 Seiten. Ab 13 Jahren.

(veröffentlicht in den CPB 2/2000 unter der Rubrik Umgeblättert)

Helmut Loder

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