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Helmut Loder - Rezensionen und Buchempfehlungen - Der Waschzettel

Eine EntScheidung von Ulrich Schaffer
Die Verbrennung

Ulrich Schaffer ist bekannt. Als Autor zahlloser meditativer Foto-Text-Bände, in denen er seinen Glauben, sein Beten, seine Betrachtungen über Gott und die Welt in einer ansprechend lesbaren Form bild- und aussagekräftig artikuliert. Für die heutige Betrachtung möchte ich auf eine schon 1989 erschienene Erzählung aufmerksam machen, die in einer sehr dichten Form den radikalen Schritt der Befreiung einer jungen Frau von einem einengenden männlich bestimmten Gottesbild beschreibt: Eine junge Frau verbrennt ihre Bibel. Wie kann es zu solch einem Schritt kommen? Was muss geschehen sein, um eine solche symbolische Handlung zu wagen? Eva-Marie hat eine bedrückende Kindheit und Jugend hinter sich, mit einem glaubensstarken Vater, der sie in ein starres christliches Gerüst zwängt und ihr Buchstabengläubigkeit und unbedingten Gehorsam abverlangt. „Das Buch der Bücher” wird zum Symbol dieser Einengung und Beschneidung von Lebensmöglichkeiten.
Ulrich Schaffer bietet mit dieser Erzählung ein dichtes stimmiges Gleichnis für die Befreiung der Frau zu einem teilhabenden und liebenden Glauben an. Es ist eine energische Aufforderung an die Frauen, sich dem Gefühl des Erstickens und der männlichen Fremdbestimmung nicht mehr langer auszulie-fern. Den Männern stellt es einen Glauben vor Augen, der die Freiheit widerspiegelt, die in der Liebe zwischen Mensch und Gott möglich ist.

Im ersten - für das Buch typischen - Ausschnitt geht es um eine Form des subtilen Widerstandes der Eva-Marie:

“Eine volle Kirche. Der Gastredner kam von weit und hatte ein hohes Amt. Ihr fiel gleich die Gelehrtheit seiner Rede auf. Und weil viele ihm einen Vorschuss an Vertrauen gaben, oder anders ausgedrückt: ihn bestaunen wollten, hörten nur wenige wirklich hin. Sie merkten darum auch nicht die stille Verachtung, die aus seinen Worten sprach. Diese Verachtung galt besonders Frauen. Es kam sogar der Begriff “das schwache Geschlecht” vor, und auch wenn er dabei lächelte und es als einen Witz einfügte, wusste Eva-Marie, dass er glaubte, was er sagte.

Es waren etwa zehn Minuten der Predigt vergangen, als Eva-Marie aufstand und langsam nach vorne ging. sie hatte ihren Mann nicht gewarnt. Es war ihre Handlung. Vorne in der Kirche gab es einen Not-ausgang. Die, die ihr mit den Augen folgten, meinten, es gehe ihr schlecht und sie strebe diesem Notausgang zu. Aber als sie dann anstatt nach links nach rechts in Richtung Kanzel ging, hörte wohl kaum noch jemand auf die Predigt.

Sie ging bis direkt unter die Kanzel und sagte dann mit klarer Stimme: “Ich fühle mich von diesen Worten entwürdigt, als Frau und als Mensch.” Viele hatten nicht sofort verstanden, vielleicht auch nicht, weil sie mit ihren Gedanken woanders waren, und wiederholten still die Worte noch einmal in sich. “Ich fühle mich von diesen Worten entwürdigt, als Frau und als Mensch.”

Nachdem sie den Satz gesagt hatte und es spürbar peinlich zu werden begann, stand sie ganz still. Vielleicht dreißig Sekunden lang. Aber diese dreißig Sekunden waren länger, als die Predigt bis dahin gewesen war, und vielleicht für manche auch aussagekräftiger. Denn ging sie ebenso langsam den Gang nach hinten aus der Kirche hinaus. Erst als sie das Gebäude verlassen hatte, setzte der Pfarrer seine Predigt fort, ohne den Vorfall zu erwähnen.

Später hörte sie, dass sich ihr Ortspfarrer bei dem Würdenträger für sie entschuldigt habe.“

Zu einer der beeindruckendsten Passagen des Buches gehört für mich ihr Brief an den verstorbenen Vater. Ich würde ihn vergleichen mit dem Brief Kafkas, in dem er mit seinem Vater berührende Zwiesprache gehalten hat.

„Vater, du bist zwar schon tot, aber ich finde es trotzdem nötig, dir diesen Brief zu schreiben. Das Un-gesagte kettet mich immer noch an dich. Weil ich dir nie gesagt habe, wie ich dich erlebt habe, trage ich ein Geheimnis in mir, das mich nicht frei sein lässt. Auch behindert es mich in meiner Einstellung zu anderen Männern, besonders zu solchen, die mit Frauen umgehen, wie du es getan hast, und das sind leider die meisten.

Ich glaube, dass du sehr gemischte Gefühle mir gegenüber gehabt hast. Du hast mich geliebt, in deiner verworrenen Art, du warst sogar ab und zu zärtlich zu mir, auch wenn du meintest, danach dann besonders streng sein zu müssen. Deine Liebe galt meistens deiner Tochter, dieser Rolle, Fleisch von meinem Fleisch, wie du es nanntest, als wir noch jünger waren. Du bist mit deiner Liebe nie weiter gekommen als zu der Rolle deiner Tochter. Du hast nicht gemerkt, dass ich langsam eine eigene Identität entwickelte, dass ich nicht mehr in erster Linie deine Tochter war, sondern Eva-Marie, mit eigene Ansichten, Bedürfnissen und Nöten.

Vielleicht konntest du es dir nicht leisten, mich als eigenen Menschen zu sehen, weil ich dich dann in deiner Stellung gefährdet hätte. Du warst dann nicht mehr der alleinige Maßstab geblieben, warst hinterfragbar, vielleicht sogar anfechtbar geworden. Und das konntest du vor Gott nicht zulassen. Damit hättest du deinen dir von Gott gegebenen Auftrag vernachlässigt. Du hattest doch immer so schnell Gott auf deiner Seite, und gegen euch beide waren wir nichts. Wenn du gewusst hättest, wie finster Gott dadurch damals in meinem Herzen geworden ist, aber ich konnte es dir nicht sagen, dazu hatte ich den Überblick nicht ...

Aber zurück zur Eigenständigkeit. Vater, du warst ein Zerrissener in diesem ganzen Gebiet deines und meines Lebens. Einerseits hast du mich zur Eigenständigkeit erzogen, hast mich früh in Entscheidungen gestellt, vielleicht sogar manchmal zu früh, so dass ich mich überfordert fühlte. Andererseits hast du immer wieder versucht, mir diese Eigenständigkeit auszutreiben. Deine gröbste Härte habe ich immer dann erlebt, wenn ich versuchte, ein eigener Mensch zu sein, wenn ich etwas entschieden habe, was vielleicht gegen deinen Willen ging, oder wenn ich mit meiner Entscheidung Profil entwickelt habe. Damals kannte ich das Wort „Profil” nicht. Als Kind hatte ich nicht die Möglichkeit, meine Entwicklung gedanklich durchzuarbeiten, und so habe ich nur stumm gelitten unter diesem Widerspruch, den ich immer wieder bei dir empfunden habe. So wurde darum am Ende alles immer wieder eine Frage des Gehorsams und nicht des gemeinsamen Entdeckens und Eroberns dessen, was das Leben lebenswert und den Menschen lebensfähig macht. Ich habe dir fast immer gehorcht, und wenn ich es nicht getan habe, dann bin ich dafür bestraft worden. Dann hast du noch erwartet, dass ich mich für meinen Ungehorsam entschuldigte, und auch das habe ich angesichts deiner Gewalt über mein Leben getan. Aber in mir hat alles geschrieen, weil ich mich damit gegen mich selbst entschieden habe. Ich habe mich entschuldigt, dass ich bin. Du hast von mir verlangt, dass ich mich selbst zerstöre. Und ich habe es getan. Erst in den letzten Jahren ist mir das aufgegangen, und ich sehe es jetzt als meine Pflicht an, die Entschuldigungen, die ich dir damals gegeben habe, wieder zurückzunehmen. Ich schulde es mir. Ich schulde es dem Mädchen, das ich war, und ich schulde es der Frau, die ich noch sein werde...

Ich habe vorhin davon gesprochen, dass du es Gott zu schulden meintest, von uns den Gehorsam auf diese harte Art zu erwarten. Es war viel mehr als das. Du hast uns mit einem heiligen Gott erzogen, einem Gott, der keinen Ungehorsam duldet, der jede Sünde sieht. Das hat sich mir ganz tief einge-prägt. Es war nicht nur Theorie, sondern Wirklichkeit. Es wurde dann Wirklichkeit, wenn du Gehorsam von mir verlangtest. Wenn ich an deiner Autorität gerüttelt habe, ja, sie nur befragt habe, dann tat ich das in deinen Augen auch gleichzeitig mit Gott. So habe ich es jedenfalls erlebt. Das gab dir eine göttliche Kraft, eine schier endlose Gewalt, und manchmal hast du sie schamlos gebraucht. Von dieser Kraft hast du dann auch noch etwas an andere Männer weitergegeben. So wusste ich, dass ich als Mädchen und später dann als junge Frau Männern untertan sein musste. Und ich war es, ohne es wirklich zu merken. Ein Mann gehörte zu dem Kraftblock, den du darstelltest, nur weil er Mann war. Da gab es letztlich nicht viel zu fragen.

Das Gemeinste daran war, dass es so tief in mich gesunken ist, weil ich diese Fragen alle so ernst genommen habe, denn, siehst du, ich war genauso an spirituellen Dingen interessiert wie du. Ich war deine Tochter. Ich habe deinen Gott in mich aufgenommen als meinen Gott, als ich klein war. Erst viel später habe ich gemerkt, dass das nicht mein Gott sein konnte. Und weil es so tief in mir geschah, konnte ich dir noch nicht einmal die Schuld geben. Ich machte es ja mit mir selbst. Darum konnte ich mich nicht von dir lösen, ohne mich selbst zu zerfleischen. Darum ist es ein so langer Weg gewesen, bis ich jetzt da bin, wo ich bin. Inzwischen weiß ich, dass nichts uns so zerstört wie das Fremde, das wir in uns aufnehmen und von dem wir glauben, es sei unser Eigenes. Ich verfluche das System, das dich zu dem Menschen gemacht hat, der du meintest sein zu müssen. Ich verfluche die Verachtung das Menschen zugunsten eines Gottes, eines menschenfressenden Gottes, der den Menschen nur knechtet und dem der Mensch dann noch mit Liebe dienen soll. ich verfluche die Art von Frömmigkeit, die sich mit der Liebe und Rechtgläubigkeit brüstet und dabei den Menschen rechts und links kaltschnäuzig verurteilen kann. Ich verfluche nicht dich, dich liebe ich immer noch, auch auf meine verworrene Art, aber ich trauere dem nach, was alles zwischen uns hätte entstehen können. Ich trauere der Nähe nach, die fast nie über die Anfangsstadien hinaus gelang, weil du dich dann schon wieder in der Rolle des Vaters, des Wissenden, des Propheten, versteckt hast. Ich trauere der Liebe nach, die ich für dich hatte und die dich nie erreicht hat, weil du sie nicht annehmen konntest, und für die ich keine andere Form fand, die ich mit gutem Gewissen leben konnte. Ich trauere uns beiden nach...
Lange habe ich die Zerrissenheit von dir übernommen. Auch wenn ich gegen dich rebelliert habe, habe ich doch deine Werte in mir getragen, manchmal versteckt, mir selbst kaum bekannt, aber doch waren sie da. Mein Name hat mich immer an die Zerrissenheit erinnert. Eine Zeitlang habe ich meinen Namen nur als Eva angegeben, sogar so unterschrieben. Aber jetzt nehme ich meinen Doppelnamen wieder zurück. Ich habe meinen Namen gern, weil ich langsam begreife, dass Leben und Glauben zusammengehören. Ich will nicht länger in zwei Welten leben. Ich bin Eva und ich bin Maria. Eine macht die andere reich. Eine korrigiert die andere, und gegenseitig retten sie sich vor der zerstörerischen Einseitigkeit. Mein ganzer Name wird mir helfen, die Zerrissenheit zu überwinden und eine gesunde Integration zu erreichen.
Gerne hätte ich so mit dir geredet, Vater, und vielleicht hättest du auch aus deiner Enge herausgefunden. Aber es ging immer nur ein paar Sätze lang, und dann hast du dich wieder hinter deiner Rolle verschanzt, und ich war wieder allein mit meinen Gedanken, und du warst es auch. Selbst als ich den langen Brief drei Jahre vor deinem Tod schrieb, konntest du nicht anders, als ihn zu verbrennen. Als ich es von meiner Schwester hörte, bin ich ein Stück mitverbrannt, auch wenn ich es fast nicht anders erwartet hatte.

Einen letzten Gedanken möchte ich noch loswerden. Er ist mit viel Schmerz verbunden, aber ich will wenig über meinen Schmerz schreiben, weil ich den in mir ohne deine Hilfe abmachen will und mich mehr darauf konzentrieren, was in unserer Beziehung ablief. Ich rede von der Frage der Schuld. Für dich war Schuld etwas ganz Wichtiges. Wenn etwas nicht stimmte, hatte jemand schuld. Der Schuldige musste gefunden werden Es musste um Vergebung gebeten werden. Es musste bereinigt werden. Schuld, Schuld, Schuld.

Bis heute verfolgt mich diese Frage. Ich will nicht so tun, als gäbe es keine Schuld, will mich weder damals noch heute als schuldlos darstellen. Aber musste die Schuld so im Zentrum stehen, dass wir als Kinder manchmal an nichts anderes denken konnten als an unsere Schuld? Und das hörte ja nicht bei uns auf. Vor Gott waren wir immer schuldig, auch für die Dinge, die wir nicht wussten. Wir mussten darum auch für unbekannte Sünden um Vergebung bitten. Nie haben wir genügt. Und daran arbeite ich bis heute noch. ich bin nicht gut genug. Ich leiste nicht genug. Ich mache zu viele Fehler. Ich liebe nicht genug. Nicht genug. Nicht genug. Ungenügend. Vater, weißt du, wie dunkel das Leben dann aussieht? Was für einen unerbittlichen, grausamen fordernden Gott hast du uns vorgestellt! Und dann hast du uns befohlen, ihn zu lieben. Und natürlich konnten wir das auch wieder nicht genug. Es gab kein Ende.

Von diesem Gott, den du in mir geprägt hast, wende ich mich ab, so gut ich kann. Ich werde ihn auf einem Scheiterhaufen verbrennen. Ich werde mich frei machen von ihm. Anstelle des Gehorsams werde ich die Liebe setzen, und nicht die Liebe unter Druck, nicht die Liebe, die erwartet wird. In der Liebe ist kein Platz für Gehorsam, sondern nur für Vertrauen. Und ich werde eigenständig werden, weil in mir der Reichtum der ganzen Schöpfung liegt, für den ich mich nicht zu schämen brauche. Ich werde mich entfalten, dass vielleicht sogar du, Vater, daran Freude hättest, wenn du dir die Freude erlauben würdest .

Nach Schuld werde ich nicht mehr fragen. Ich werde sie nicht wegerklären, aber sie wird in meinem Universum nicht mehr so wichtig sein.

Und meine Freude, eine Frau zu sein, wird von Jahr zu Jahr wachsen. Schon jetzt bin ich darüber glücklich, auch wenn das in einer Männer geprägten Welt manche Benachteiligung bedeutet. Ich bin glücklich, so stark die Sehnsucht nach Heilheit in mir zu spüren, wie ich sie selten in Männern finde, und dass ich nicht mehr kämpfen und beweisen muss, dass ich etwas wert bin, weil ich es in mir weiß. Ich bin froh, dass Gott kein Mann ist.

Ich tippe diesen Brief, weil ich dir meine Handschrift, an der du meistens etwas auszusetzen hattest, nicht anvertrauen will. Sie ist mir etwas Privates, Wertvolles, und ich möchte sie nicht von dir gerichtet haben.

Eva Marie

Ein wahrhaft berührendes Buch für Frauen und Männer.

Zum Autor

Ulrich Schaffer wurde 1942 in Pommern geboren. Die Familie floh von dort, wohnte bis 1953 in Bremen und wanderte nach Kanada aus. In den Jahren 1961 bis 1970 studierte er Germanistik und Anglistik an der University of British Columbia und an der Universität Hamburg. 1970 bis 1981 war er Dozent für europäische Literatur an einem College bei Vancouver. Seit 1981 ist er freiberuflich Schriftsteller und Fotograf. Lesereisen führen ihn meist zweimal im Jahr nach Europa, wo er Kontakt mit seinem Publikum hält. Zahlreiche Meditations- und Foto-Bild-Text-Bände.

(erschienen in den CPB 4/97, in der Rubrik: Umgeblättert)

Helmut Loder

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