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Helmut Loder - Rezensionen und Buchempfehlungen - Der Waschzettel

José Saramago
Stadt der Blinden

Eine Parabel über das Menschsein von José Saramago.

Bekommen Sie Angst in der Dunkelheit? Fürchten Sie sich vor der Schwärze der Nacht? Haben Sie sich schon einmal gefragt, was es bedeutet, von einem Augenblick auf den nächsten, nichts mehr sehen zu können? Blind zu sein? Unerwartet, unverhofft und unwiderruflich? Plötzlich aber war alles weiß …

Der portugiesische Literaturnobelpreisträger José Saramago entwickelt in seinem 1995 erstmals veröffentlichten Roman „Die Stadt der Blinden“ (deutsch 1997) ein beängstigendes und erschreckendes düsteres Szenario einer schnell und unkontrolliert um sich greifenden Epidemie von (weißer) Blindheit. Es ist die Chronik des Zusammenbruchs einer Gesellschaft, die vorwiegend aufgebaut ist auf der Fähigkeit, sehen zu können, und von der Auflösung moralischer Konventionen. Dabei fängt alles recht harmlos an.

An einem ganz normalen Tag in einer ganz normalen Stadt. Ein Autofahrer erblindet plötzlich an einer Ampel stehend. Von einem Fremden wird er nach Hause gebracht, jener stiehlt ihm danach sein Auto und erblindet ebenfalls. Als nächstes verliert der vom ersten Blinden aufgesuchte Augenarzt sein Augenlicht und eine junge Frau. Wie bei einer ansteckenden Krankheit greift die weiße Blindheit um sich. Von den Gesundheitsbehörden werden sie in eine desolate psychiatrische Krankenanstalt gesteckt und vom Militär streng bewacht. Die einzige Stütze und der heimliche Mittelpunkt der Geschichte ist die Frau des Augenarztes, die aus unerklärlichen Gründen nicht erblindet. Sie hilft (unentdeckt) und regelt das Leben zu Beginn noch einigermaßen, doch bald greift Chaos und Zerstörung, Gewalt und Tod um sich. Wie in der schlimmsten aller barbarischen Welten gibt es bald auch hier organisierte Banden, die die Schüchternen und Hilflosen unterdrücken, organisierte Vergewaltigungen und Diebstähle des rationierten Essens. In einem Akt des Widerstandes ersticht die (sehende) Frau des Arztes den Anführer der Terrorbande und führt ihre kleine Gruppe in die mittlerweile schrecklich veränderte Landschaft der Städte zurück.

Saramago beschreibt die Situation des modernen Menschen immer wieder in solchen düsteren Parabeln. Stets führen sie in den „Untergrund des Mythos“ zurück, Verblendung und Blindheit stehen für die Allegorie der gesellschaftlichen zwischenmenschlichen Beziehungen. „Die Blindheit ist eine Parabel“ erklärte Saramago in einem Interview, „Unser Verstand ist blind. Wir sind nicht fähig, die Welt um uns herum zu sehen und die Wirklichkeit zu erkennen.“

Meisterhaft ist es Saramago gelungen, tief verschüttete Urängste zu wecken und die Spannung immer weiter zu steigern. Die fiktionale Verfremdung der Wirklichkeit, das Anprangern der moralischen Verwahrlosung und Verrohung unter extremen Vorzeichen ist ihm mit einer solchen Kraft der literarischen Bilder gelungen, dass einem wirklich Hören und „Sehen“ vergehen! „Der Inhalt ist sehr hart und der Stil muss sich dem Inhalt anpassen!“

Saramago treibt seine Figuren bis an den Rand der Menschlichkeit und stürzt sie dann in den Abgrund. Er hat sich eine Welt ausgemalt, die eigentlich die Hölle ist, in der Menschen keine Heimat und keinen Namen haben, und denen zumeist die Hoffnung auf Menschlichkeit abhanden gekommen ist. Aber der Rezensent A. Wilber notiert: „Mit der Person der Frau des Arztes hat Saramago eine tapfere Frau geschaffen, die dem Leser als Auge und Ohr und als Gewissen der Menschheit dient. Und er hat mit „Die Stadt der Blinden“ eine gehaltvolle, letztlich transzendente Betrachtung geschrieben über das, was es bedeutet, ein Mensch zu sein.“ Der Roman ist die drängende Frage nach dem, was das Menschsein bestimmt und wie zivilisiertes Zusammenleben funktionieren kann. Neben all den Grausamkeiten, lässt Saramago in einigen Momenten auch das Gute, Solidarische, ja sogar die Fähigkeit zur Liebe aufscheinen.

Dezidiert wolle er nicht die physische Blindheit beschreiben, sondern die Blindheit des egoistischen Geistes des modernen Menschen. Entmenschlichung möchte er anschaulich machen unter den Vorzeichen des herrschenden Schattenreiches, Aggression aber auch übermenschliche Liebe werden von ihm in literarische Bilder übersetzt. Die Fragen lauten: Welche Konsequenzen haben archaische Gefahren und Bedrohungen wie der Verlust des Augenlichts, eines persönlichen Namens für das Leben in der Welt von heute, für das Zusammenleben der Menschen? Was bedeuten Globalisierung, Anonymisierung in den unübersichtlichen Städten und permanente Kontrolle durch Machtblöcke (wie z. B. das Militär in der „Stadt der Blinden“) für den Alltag, für das Denken des Menschen der Gegenwart?

„Waren wir nicht vielleicht schon blind, ehe wir erblindeten?“ fragt sich einer aus dem Roman und stellt damit jedem Leser/jeder Leserin die Frage, ob nicht auch er/sie schon blind ist für das Wesentliche? Mit seiner Metapher der Blindheit verurteilt Saramago aufs eindrucksvollste den herrschenden Zeitgeist, der nicht nach den Konsequenzen und Verantwortungen unseres Lebens fragt. Werte und Übereinkünfte, Moral und Handeln nach der

Es fällt auf, dass die handelnden Personen in Saramagos Roman keine Namen tragen, der erste Blinde bleibt bis zum Ende „der erste Blinde“ und die „Frau des Arztes“ – die einzig Sehende unter den Blindgewordenen – agieren ohne Namen. Es scheint als wolle Saramago darauf hinweisen, dass die Blindheit alle gleich macht, auch die Stadt bleibt ohne Namen, weil sie überall sein könnte. Umrisse und Profil der Charaktere gewinnen diese allein durch ihr Handeln. Saramago beschreibt sie überdies ungemein plastisch und präzise.

Saramago verzichtet in seinem äußerst spannenden Text auf alle Anführungszeichen und Absätze und erzielt dadurch eine ungeheure Sogwirkung. Die erschreckende und stellenweise hemmungslos Detail verliebte Geschichte wird atemlos erzählt, mit sorgfältiger und penibler Realistik schildert er die Umstände und Vorgänge in der Quarantäne der Irrenanstalt – wieder ein Bild für die Gesellschaft! – bis hin zum überraschenden unerwarteten Ende.

Ein wichtiger Hinweis: Diesen Text gibt es auch in einer absolut hörenswerten Hörbuchfassung mit 4 MCs, gelesen vom Schauspieler Reiner Unglaub, der selbst blind ist. Dazu ein Originalzitat des Autors: „Alle meine Bücher sollten als Hörbuch erscheinen, denn ich habe einen narrativen Schreibstil. Ich formuliere meine Texte so, dass man sie gut sprechen kann, denn ich verstehe mich als Erzähler.“

Zum Autor

José Saramago, geboren 1922 in einem Dorf in der portugiesischen Provinz Ribatejo, entstammt einer Landarbeiterfamilie, arbeitete als Maschinenschlosser, Angestellter und Journalist. Seit 1996 widmet er sich nur dem Schreiben. 1998 erhielt er den Nobelpreis für Literatur. Weitere Publikationen: Das Memorial/Das Evangelium nach Jesus Christus/Alle Namen/Das Zentrum.

(veröffentlicht in den CPB 3/2003 unter der Rubrik Umgeblättert)

Helmut Loder

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