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Helmut Loder - Rezensionen und Buchempfehlungen - Der Waschzettel

Anna Mitgutsch
Das Haus der – verlorenen – Kindheit

Manche Bücher erringen Aufmerksamkeit, weil sie so gut sind, wie sie beschrieben und auch von der Literaturkritik bewertet werden. Der Roman „Haus der Kindheit“ gehört zweifellos dazu. Die bekannte österreichische Autorin Anna Mitgutsch hat mit ihrem letzten Buch wieder einmal bewiesen, dass man hervorragend „konventionell“ erzählen kann, ohne vertrackte Sprachspielereien, reflexiv und von faszinierender atmosphärischer Dichte, so dass keine Minute Langeweile aufkommt. In einer Zeit, in der die Thematik der jüdischen Zwangsenteignungen („Arisierung“) und der Versuche, Wiedergutmachung zu leisten, in allen Medien präsent war bzw. ist, muss man dem Buch von Anna Mitgutsch viele Leser/innen wünschen.

Der Inhalt selbst ist schnell erzählt: Das »Haus der Kindheit« steht in H., einer österreichischen Kleinstadt. Max Berman hat es 1928 als Fünfjähriger verlassen müssen, zusammen mit seinen Eltern, die nach New York ausgewandert sind. Die zurückgebliebenen Großeltern fallen zehn, fünfzehn Jahre später dem Naziterror zum Opfer. Das Haus wird »arisiert« und auch nach der Befreiung den Erben nicht zurückgegeben. Im Herbst 1945, als Max als Corporal der US-Army zum ersten Mal in seine Geburtsstadt zurückkehrt, wird ihm der Zutritt zum Haus verwehrt. Bei seinem zweiten Aufenthalt, 1974, trifft er immer noch auf »diese Mischung aus Unterwürfigkeit und Überheblichkeit«, die es ihm unmöglich macht, sich der Stadt zugehörig zu empfinden. Immerhin gelingt es aber seinem Anwalt, die Rückstellung des Hauses zu erwirken. Die Stadt H. bleibt ihm jedoch fremd; Max zweifelt nicht daran, dass er nach New York gehört, auch wenn ihn dort »die alte Sehnsucht nach Europa wieder heimsuchen wird«. Anfang der neunziger Jahre gibt er ihr nach – das Haus, das ihm gehört, steht nach dem Auszug der letzten Mieter leer. Er will es nach seinen Vorstellungen einrichten, »jede Jahreszeit dort zumindest einmal noch erleben«, den Gerüchen, Stimmen und Schatten der Kindheitserinnerungen nachgehen. »Er war überzeugt, er kehre an den Ort zurück, an dem er sterben werde.« Aber nach einem langen Aufenthalt, bei dem er tatsächlich alle Jahreszeiten erlebt hat, fliegt Max zurück nach New York, »nach Hause«, wie er sagt. In H., genauer gesagt in deren winziger jüdischer Gemeinde, hat er zwar Freunde gefunden und Bekanntschaften geschlossen. Aber sein größter Freund, der Remigrant Spitzer, ist gestorben, und Nadja, die einmal geliebte Fotografin, fällt in der Ukraine einem Verbrechen zum Opfer – nichts hält ihn mehr an diesem Ort, an dem alles in die Vergangenheit weist, die sich nicht einfach wegmachen lässt.

Aber der Roman ist jedoch als nur eine notgedrungen elegisch-vergebliche, bittere Darstellung der gescheiterten Annäherung an eine Gesellschaft, die mit ihrer eigenen Geschichte nicht umzugehen versteht. Mitgutsch schreibt parallel dazu auch die Geschichte mehrerer Menschen in Max Bermans Umgebung, die ungeachtet aller Schwierigkeiten und Widersprüche den festen Willen haben, aufeinander zuzugehen. In ihnen ist als Möglichkeit die Kraft angelegt, sich über die Verhältnisse zu erheben. Das ist im letzten ungemein tröstlich, lässt einen aufatmen und mit großer Spannung weiter lesen.
Schon die Eingangssequenz zeugt von großer Souveränität in der Handhabung literarischer Mittel und Ausdrucksmöglichkeiten:

„Das Foto stand auf der Kommode, solange Max sich zurückerinnerte. Es machte jede neue Wohnung, in die sie einzogen, zu einem weiteren Ort des Exils. Im Unterschied zu allen anderen Gegenständen, die sie nach jeder Übersiedlung auspackten, reichte seine Bedeutung weit in die Vergangenheit, und wie ein Schwur verpflichtete es dazu, ein Versprechen einzulösen. Mitten in ihrem Leben verwies es auf die eine Gegenwart, die schmerzlich fehlte.
Das ist unser Haus, sagte seine Mutter und nahm das Foto andächtig in die Hand, in ein paar Jahren fahren wir vielleicht dorthin zurück.
Von seiner Mutter hatte Max gelernt, dass die Erinnerungen das einzige waren, was einem nicht verloren gehen konnte. Man durfte sie nur nicht ziehen lassen, wie die Schiffe, die sie als Kinder gebannt beobachteten, wenn sie über den fernen Rand des Atlantiks kippten und verschwanden. In ihren ersten Jahren nach der Emigration gingen sie oft ans Meer, und Mira, ihre Mutter, wies mit dem Finger auf jene graue, manchmal unsichtbare Linie, die den Himmel vom Wasser trennte: Dort drüben liegt Europa.
Die Grenze war eine gerade Linie in einer Ferne, die nie näher rückte. Hätte er ein Bild für die Trauer seiner Mutter finden müssen, dann wäre es jenes unsichtbare Haus gewesen, das über den Horizont des Ozeans entschwunden war.
Doch drüben, in einer österreichischen Kleinstadt, stand das Haus und wartete. Und dessen auf die Größe eines Schwarzweißfotos geschrumpftes Ebenbild wartete auf Miras Kommode in der Delancy Street, später in Brooklyn, und als sie die Kommode verkaufen musste, auf einem Küchenregal am Crotona Park. Dann verschwand es und lag lange, gerahmt, aber mit dem Gesicht nach unten am Grund des Wäschefaches. Erst nach ihrem Tod stellt Max es neben das Farbfoto, das er inzwischen, Jahre später, bei einem Versuch in H. aufgenommen hatte. Aber das neue Foto hielt der sepiafarbenen Melancholie des alten Bildes nicht stand. Es wirkte nackt, beinahe anstößig und so beliebig wie ein Urlaubsfoto. Er nahm es weg.
Das Haus, in dem er irgendwann in der Zukunft wohnen wollte, war nicht jenes heruntergekommene Gebäude aus den zwanziger Jahren, als dessen Besitzer er sich fühlte, sondern ein Kindheitstraum, gespeist aus der lebenslangen Sehnsucht seiner Mutter nach einem endgültigen Nachhausekommen.
Max hatte beschlossen, an ihrer Statt zurückzukehren, nicht gleich, auch nicht in absehbarer Zeit, sondern wenn das Leben in der Gegenwart sich verlangsamte, vielleicht zum Stillstand käme, in einer Zukunft, die mit dem Fortschreiten der Jahre jedoch nicht näher rückte.“
(S. 7f.)

Mitgutsch beschreibt in der Schilderung der zögerlichen “Heimkehr” die fast schon erwarteten üblichen rechtlichen Schwierigkeiten, verfällt dabei aber nie in harte Schwarz-Weiß-Malerei, lässt Wut und Trauer zu, differenziert ohne Pathos und Polemik. Sie erzählt von Menschen, Suchenden, Reisenden, Sehnsüchtigen, die ihren Platz in der Welt verloren haben, und nun eine Heimat suchen, aus der sie nicht vertrieben werden können. Waren es in den früheren Romanen („Die Züchtigung“, „Ausgrenzung“, „In fremden Städten“, „Abschied von Jerusalem“) vorwiegend Frauen, unbehauste Grenzgängerinnen, so ist es diesmal ein Mann, der sich aufmacht, das nur mehr in der Erinnerung existente „Haus der Kindheit“ zu finden und wieder zu beleben. Ein Arbeitstitel des Romans lautete: „Die Enteignung“. Der Hauptaspekt des dichten, 330 Seiten starken Romans liegt meiner Meinung nach auf der Frage nach der Heimatbindung, dem Erleben von Fremdsein und Heimkehr, und dem Drang, die Erinnerung zu überprüfen, die man von geliebten Orten und Menschen hatte.

»Sind wir denn Pflanzen, dass wir Wurzeln brauchen? Ich habe auch keine Wurzeln ... es ist aufregend, ein wurzelloser Kosmopolit zu sein«, tröstet der Protagonist des Romans, Max Berman, als 70-jähriger eine junge Frau, die ihre religiöse Heimatlosigkeit beklagt. Anna Mitgutsch sagt dazu:

»Diese Aussage ist auch für mich Programm. Die Existenz von Max ist die eines Reisenden, Räume sind für ihn Durchgangsräume. Ich will Max keineswegs als Charakter darstellen, dem Beziehungen nicht gelingen, der sich nicht beheimaten kann. Ich bin wie Max: Warum brauche ich Heimat, warum hängt man an diesem Begriff? Heimat sind ein paar Menschen, die man liebt, Heimat ist die Sprache, Heimat sind die Bücher, die ich um mich versammle, Heimat ist mein großer Garten, den ich sehr liebe. Diese Elemente suche ich zusammen, sie müssen nicht an einem Ort komprimiert für mich vorhanden sein. Ich bin auch kein Baum, der irgendwo verwurzelt stehen muss.«

Anna Mitgutsch betont die Wandelbarkeit von Erinnerungen, die in der amerikanischen Psychologie im Zusammenhang mit Gerichtsprozessen belegt wurde:

»Je mehr sich in einem Leben ereignet, desto größer ist die Kluft zwischen dem objektiven Faktum und dem, was die Erinnerung daraus erschafft.«

Objektiv sei hingegen das Foto des Hauses in H., die Bilder im Kopf sind hingegen keine Garanten. Max ist als Augenmensch, als Ästhet angelegt, »sein Wohlbefinden hing davon ab, was sich seinen Augen bot«.

Beeindruckend sind die ungemein dichten Orts- und Naturbeschreibungen, die Schilderungen des Alltags in New York und in amerikanischen Kleinstädten. Sogar die aus Gründen der Diskretion anonymisierte Stadt H. gewinnt allmählich genaue Konturen, wird plastisch, gleichsam begehbar. Also vielleicht doch ein Ort zum Leben, dieses Österreich, trotz all der vertrackten Biographien, die Max einmal zum halb verzweifelten Ausruf nötigen:

»Gibt es denn keine glücklichen Menschen in diesem Land?«

Im vergangenen Jahr hat Anna Mitgutsch im Rahmen der Grazer Poetikvorlesungen weitere Überlegungen zum Thema »Erinnern und Erfinden« angestellt.

„Vielleicht kann über Heimat nur reden, wer das Fremdsein erlebt hat.“

In einem Interview meint sie:

„Ich will nicht primär Geschichten erzählen, ich schreibe Literatur. Man kann einen Sachverhalt auf viele Weisen darstellen, sobald aber die Darstellung zu Literatur wird, gibt es nur eine Möglichkeit, das ist die literarisch geformte. Während des Schreibens denke ich nicht an die späteren Leser/innen; aber ich weiß auch, dass ein Roman, der die Leser nicht erreicht, ein toter Text ist. Als ich Anfänge des Romans suchte, war mir klar, dass Max eine Figur sein wird, deren Bewusstsein sich im inneren Monolog ständig ausdrückt und daher sowohl mir als Autorin als auch den Lesern zugänglich sein muss. Jede Figur hat Symbolcharakter, bedeutet unendlich viel mehr als sie selbst. Das Schreiben von Romanen ist wie das Erzählen einer Biografie: man wählt eine Biografie und die Figur entwickelt sich dann. Die Charaktere im Roman sind ebenso wenig reine Abbildungen realer Menschen wie bloße Erfindungen: sie sind Mischfiguren“, reflektiert Anna Mitgutsch ihre Arbeit.

„Nie wieder hörte Max sie das Haus in H. erwähnen oder von früher reden. Sie ließ sich durch keine Erinnerung mehr trösten - alles, was einmal Hoffnung und Trost gespendet hatte, verwandelte sich in Schmerz. Von einem Tag zum anderen hörte sie auf, deutsch zu sprechen. Sie lebte, auch wenn es nichts mehr gab, was sie auf englisch nicht hätte sagen können, in einer unerreichbaren Sprachlosigkeit, in einer desorientierten Leere, trotz der paar alten Freundschaften, die sie noch pflegte.“
(Zitat S. 38)

Am Ende des Buches steht die Renovierung der Synagoge, die einen neuen Impuls in das Leben der kleinen jüdischen Gemeinde in H. bringt. Mit diesem Ereignis ist die „Mission“ von Max erfüllt und er kehrt wieder in die USA zurück.
Dieser einfühlsam und spannend geschriebene Roman löst beim Lesen große Betroffenheit und Nachdenken aus; es ist ein Buch, das an Aktualität und Brisanz seinesgleichen sucht und besonders die Themen „Vergangenheitsbewältigung, Heimat, Schicksal und Sehnsucht, Recht und Unrecht“ verständlich und beeindruckend darstellt. Die Neue Zürcher Zeitung bezeichnete dieses Werk von Anna Mitgutsch als "eine[n] der wichtigsten Romane der neueren österreichischen Literatur ... ', was die Bedeutsamkeit dieser Veröffentlichung unterstreicht.

Die Autorin

Anna Mitgutsch wurde 1948 in Linz geboren und lebt dort. Sie unterrichtete Germanistik und amerikanische Literatur an zahlreichen ausländischen Universitäten, lebte und arbeitete viele Jahre in den USA und hält sich regelmäßig in Boston auf. Am 16. Juli erhielt sie den angesehenen Solothurner Literaturpreis.

Weitere Internetadressen zum Buch:

http://www.berliner-lesezeichen.de/lesezei/Blz01_06/text58.htm
http://literaturwelt.de/buch/t_mitgutsch_anna_kindheit_evle.html

(veröffentlicht in den CPB unter der Rubrik Umgeblättert)

Helmut Loder

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